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Der Kopf entscheidet: Einblicke in die Sportpsychologie und was wir daraus lernen können. Teil 1 Teamentwicklung und Teamführung

Stephan Kisling

Interview mit dem Sportpsychologen Michael Kuhn


In diesem zweiteiligen Interview tauchen wir in zwei zentrale Themen der modernen Sportwelt ein: Teamentwicklung und Teamführung sowie den Athleten als Individuum und die Lehren, die auch Freizeitsportler daraus ziehen können.

Im ersten Teil des Interviews liegt der Fokus auf der Bedeutung von Teamentwicklung und den Herausforderungen der Teamführung. Wir beleuchten, welche Strategien und Prinzipien erfolgreiche Trainer und Führungskräfte anwenden, um eine Mannschaft zu formen, zu motivieren und sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Dabei geht es nicht nur um die sportlichen Erfolge, sondern auch um den Aufbau einer starken Teamkultur und die Förderung des Teamgeists.

Im zweiten Teil wenden wir uns dem Athleten selbst zu. Welche Erkenntnisse und Ansätze können aus dem Profisport auch für den Hobbysportler wertvoll sein?

 

Zur Person:

Michael Kuhn, oder „Michi“, wie er von allen genannt wird, ist 52 Jahre alt, lebt in München und arbeitet als Sportpsychologe in verschiedenen Disziplinen. Er hat bereits erfolgreich Fußball-, Volleyball-, Hockey- und Handballteams betreut. Zudem war er bei Olympischen Spielen (Goldmedaillengewinner) sowie Europa- und Weltmeisterschaften im Einsatz. Da er sowohl Frauen- als auch Herrenteams in unterschiedlichen Altersklassen betreut hat und noch betreut, gibt es wohl wenig, was er im Sport noch nicht erlebt hat. Ich kenne ihn persönlich aus seiner Funktion als Sportpsychologe beim DFB. Gemeinsam arbeiten wir aktuell im Trainerteam der U19.


Was hat dazu geführt, dass du Sportpsychologe wurdest?

Letztendlich war es eine Mischung aus persönlichen Erfahrungen als Sportler, Beobachtungen und Neugier. Als ich selbst in meiner Jugend nach einem Unfall über ein Jahr „raus“ war, hätte mir rückblickend psychologische Unterstützung geholfen, Strategien zu entwickeln, um mit den damit verbundenen Widerständen, dem Frust und der nachlassenden Motivation umzugehen. Während meines Psychologie-Studiums fiel mir immer wieder auf, wie häufig Athlet*innen von ihrer Schwierigkeit berichteten, mit dem empfundenen Druck umzugehen, und wie viele von ihnen Probleme hatten, ihre besten Leistungen zu den wichtigen Zeitpunkten in Wettkämpfen abzurufen.

Hinzu kommt, dass mich Menschen sehr interessieren, die versuchen, in ihrem „Metier“ das Maximale herauszuholen – egal ob im Sport, in der Musik oder anderswo. Menschen, die so gut in dem werden wollen, was sie tun, dass sie weiterkommen als andere und in allen dafür notwendigen Bereichen versuchen, sich weiterzuentwickeln.


Dass ein Sportpsychologe viele Einzelgespräche führt, kann sich jeder vorstellen. Ich weiß aber, dass deine Arbeit viel umfangreicher ist. Kannst du einen kurzen Einblick in deine Arbeit geben und was sie alles umfasst?

Einzelgespräche nehmen einen großen Teil meiner Arbeit ein, betreffen aber nicht nur die Sportler*innen, sondern alle Menschen, die in diesem System mit der Leistungsentwicklung und Betreuung zu tun haben. Es geht um persönliche Themen, die mit Leistungsentwicklung, Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheit zu tun haben, aber auch um Planung und Fort- und Weiterbildung. Alle Spitzenverbände in Deutschland haben den Bereich der Psychologie im Sport inzwischen in ihren Trainerausbildungen verankert, und ich werde gelegentlich gebeten, Vorträge zu halten oder Workshops anzubieten.

Da ich viel mit Mannschaften arbeite, gehört auch das große Feld der Teamentwicklung und -führung dazu. Hier sind oft alle Beteiligten gefragt, sodass wir in unterschiedlich großen Gruppen in Workshops zusammensitzen und gemeinsam überlegen, was es braucht, um aus einer Gruppe ein erfolgreiches, widerstandsfähiges Team zu entwickeln.


Welche der oben genannten Sportarten betreust du noch regelmäßig? Und was sind die unterschiedlichen Herausforderungen bzw. Überschneidungen dabei?

Das Schöne und Spannende an meiner Arbeit ist, wie du schon gesagt hast, die Abwechslung. Aktuell bin ich hauptsächlich im Fußball und Handball als Mannschaftssportarten tätig. Individuell betreue ich Athlet*innen von Kickboxen bis zur Leichtathletik.

Besonders spannend ist, dass es je nach Sportart unterschiedliche Kulturen gibt. Natürlich steht im Leistungsbereich immer der Erfolg im Fokus, aber die Mittel, die Wege und die dahinterstehenden Haltungen und Werte unterscheiden sich oft. Auch gibt es eine große Bandbreite hinsichtlich der strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen. Manchmal besteht ein Betreuerteam aus bis zu 15 Personen und mehr, und manchmal sind wir „nur“ zu viert. In solchen Fällen sind die Athlet*innen zwangsläufig viel stärker in die Organisation und Gestaltung der Lehrgänge und Turniere eingebunden, was zu unterschiedlichen Dynamiken in den Teams führt. Große Betreuerteams können natürlich individuell viel mehr spezielle Angebote für die Athlet*innen machen. Beides bringt Vor- und Nachteile mit sich und führt zu unterschiedlichen Herausforderungen. Einzelsportler müssen oft viel mehr mit sich selbst „austragen“.


Teamsportarten haben sicherlich ähnliche Themen, an denen sie arbeiten (Stichwort: Teambuilding, Hierarchie etc.). Aber gibt es auch große Unterschiede?

In Teamsportarten kommt häufig hinzu, dass man als Sportler*innen nicht nur im Wettkampf, sondern auch innerhalb der eigenen Mannschaft Konkurrenz hat und sich gegen diejenigen, mit denen man ja zusammenarbeiten will, durchsetzen muss. Dadurch entstehen natürlich auch permanente Vergleichssituationen, die zum einen die Athlet*innen selbst anstellen, die aber auch von Trainer*innen und dem gesamten Umfeld ständig mit „Bewertungen“ der eigenen Leistung verbunden sind. Natürlich spielt in Teams das Thema Kommunikation und der Umgang miteinander eine wichtige Rolle. Für Trainer*innen, aber auch für einige Teammitglieder oder die sportliche Leitung, geht es um die Frage, wie man die Mannschaft oder die Mitspieler gut führt. Da sind natürlich soziale Kompetenzen gefragt, aber auch ganz individuell die Frage, welche Art von Person man ist, wie man führen möchte, welche Stärken man in diesem Bereich hat und wo man vielleicht Unterstützung benötigt.


Wie wichtig ist für dich ein funktionierendes Team? Oder wird das in Zeiten von Individualität und Eigenvermarktung überschätzt?

Die Frage ist dabei, was ein funktionierendes Team ausmacht. Sicherlich haben sich die Zeiten geändert, und Individualität hat einen viel größeren Stellenwert bekommen. Da es auch wichtig ist, dass sich jeder in einer Gruppe wohlfühlt und seine bzw. ihre individuellen Stärken einbringen kann, ist es bis zu einem gewissen Grad gut, wenn dafür Raum ist und das untereinander akzeptiert wird. Aus meinen Erfahrungen kann ich aber sagen, dass erfolgreiche Mannschaften einen großen Anteil an geteilten Interessen, Zielen, Werten und Regeln haben und brauchen. Interessanterweise sind oft Mannschaften erfolgreich, die schon über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten, sich also sehr gut untereinander kennen und einschätzen können, sowie gemeinsame „Regeln“ im Umgang miteinander entwickelt haben. Versuche, Titel kurzfristig zu „erkaufen“, indem man jede Saison eine Vielzahl neuer, individuell sehr starker Spieler zusammenstellt, führen in der Regel nicht automatisch zum Erfolg. Dazu wäre es notwendig, einiges an Zeit in die Teamentwicklung zu investieren, also gemeinsame Spielregeln zu erstellen, sich auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen und Rollen innerhalb des Teams zu klären. Das kommt – meiner Erfahrung nach – aber oft zu kurz.

Es gibt gute Modelle, die beschreiben, welche Prozesse und Phasen Gruppen auf dem Weg zu einem Team durchlaufen. Viele dieser Prozesse finden irgendwann von selbst statt, das kann aber mitunter sehr lange dauern und unter Umständen zu unpassenden Zeitpunkten – also in wichtigen Phasen einer Saison – zu überraschenden und unvorhergesehenen Konflikten führen, die auf Kosten der Leistungsfähigkeit der Mannschaft gehen. Daher lohnt es sich, in Teamentwicklung zu investieren. Besprechungen, die Raum für Austausch, Diskussion und Klärung geben, sind durchaus gewinnbringend, auch wenn dafür mal eine Trainingseinheit auf dem Platz oder in der Halle kürzer gerät oder ausfällt.

Eine sehr prägende Erfahrung diesbezüglich hatte ich während einer Zusammenarbeit mit einer Bundesliga-Volleyballmannschaft. Im Volleyball gibt es oft viele Wechsel von Saison zu Saison, und wie in diesem Fall kamen Spielerinnen aus den unterschiedlichsten Ländern mit ganz unterschiedlichen Kulturen zusammen. Das individuelle spielerische Niveau war extrem hoch, dennoch gab es immer wieder überraschende Niederlagen. In einer Teamsitzung stellte sich dann heraus, dass es unterschiedliche persönliche Motive gab, in dieser Mannschaft zu sein: rein monetäre, sportliche oder soziale Motive. Da die Spielerinnen die Motive und Wünsche der anderen nicht kannten, kam es oft zu Missverständnissen und fehlerhaften Annahmen bezüglich des Verhaltens der Mitspielerinnen. Das führte zu einem Mangel an gegenseitigem Vertrauen und der wechselseitigen Unterstellung von Egoismus und mangelndem Teamspirit. Kein Wunder also, dass sich in schwierigen Spielphasen oder nach Misserfolgen wenig gegenseitig geholfen und unterstützt wurde.

Nachdem wir dann in einer Teamsitzung klären konnten, dass es nachvollziehbare, unterschiedliche persönliche Motive geben kann, aber ein gemeinsamer Nenner bezüglich des Teamziels besprochen wurde, konnten sich die Spielerinnen viel besser aufeinander einlassen und sich gegenseitig unterstützen. Danach entwickelte sich ein ganz anderer Spirit und eine Dynamik, die das Team schließlich bis ins Finale der Deutschen Meisterschaft führte. Damit so eine Entwicklung stattfinden kann, braucht es natürlich ein Klima der Offenheit und die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen sowie sich selbst auch mal zurückzunehmen und selbstkritisch zu sein.

 

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